Seit Anfang März 2025 ist die Dauerausstellung im Ehemaligen Jüdischen Waisenhaus in Pankow für Besucher geöffnet. Kuratiert und umgesetzt vom Meisterrat, erzählt die Ausstellung über das Leben der ehemaligen Bewohner, ihrer Einzelschicksale während des 2. Weltkrieges und dem Verbleib des Hauses nach Ende des Krieges.
Das Gebäude steht an der Berliner Straße noch genau so wie es der Architekt Alexander Beer im Jahr 1913 errichtete. Mit dem Haus verbindet sich eine jüdisch-deutsche Geschichte, die von den dunklen Kapiteln der Judenverfolgung bis hin zum Wiederaufbau des Hauses nach der Wende reicht. Dass die ehemaligen jüdischen Zöglinge, die den Holocaust überlebten, nach vielen Jahrzehnten im Rahmen von Besuchen wieder zum Ort ihrer Kindheit zurückkehrten – sich also ein Kreis schließen konnte – ist eine seltene Konstellation, historisch wie menschlich.
Ankauf 1999
Die Dr. Walter Cajewitz-Stiftung aus Hannover erwarb die Ruine des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses in Pankow vom Staat Israel. Angeregt wurde die Transaktion vom damaligen Bezirksstadtrat Martin Federlein (Finanzen) und Stadtrat Bossmann (Bau) sowie mit Unterstützung der Senatskanzlei. Das Gebäude wurde für 4 Mio DM erworben und mit 6 Mio DM restauriert und saniert.
Erwerbsgrund war für die gemeinnützige Cajewitz-Stiftung die Schaffung eines zentralen Kulturzentrums mit der Janusz Korczak-Bibliothek des Bezirks. Karitative Träger und später eine Schule wurden Mitmieter. Der ehemalige Betsaal (für über 200 Personen) wurde zum Kommunikationszentrum in Pankow. Bis heute haben 73 ‚Pankower Waisenhausgespräche‘ Jahr für Jahr zahlreiche Mitwirkende aus Politik, Kultur und Wissenschaft sowie stets ein engagiertes Publikum aktivieren können.
Wiedereröffnung 2001
Das herausragende Erlebnis war 2001 die „Wiedereröffnung“ (‚Reunion‘) des Hauses, die getragen wurde von 19 Überlebenden der ehemaligen Zöglinge und ihrer Angehörigen. Aus Israel, USA, England, Kanada konnte die Stiftung und ein gegründeter Förderverein diese Menschen bewegen, die Stätte ihrer Vertreibung erstmals nach der SHOA wieder zu betreten. Sie überlebten dank rettender Kindertransporte und abenteuerlicher Fluchten. Die meisten der Zöglinge und ihrer Lehrer und Betreuer wurden jedoch in Konzentrationslagern ermordet.
Diese Geschichte, von der das ehemalige Waisenhaus heute berichtet, ist umso eindrucksvoller, als dass das ehemalige Waisenhaus heute in einer konsistenten Alltagswirklichkeit steht. Im vorderen Hausteil befindet sich eine öffentliche Bibliothek, im hinteren Teil eine Schule. Vergangenheit und Gegenwart durchdringen sich. Das an einem Ort zu erleben zu können gehört nicht zur Regel. Viele historische Orte mit Bezug zum Nationalsozialismus existieren nicht mehr oder können nicht betreten werden, oft erinnert nur noch eine Gedenktafel an das Geschehene. Andere Adressen sind ausschließliche Erinnerungsorte, Museen oder Gedenkstätten. Das Waisenhaus ist anders: Erinnerung wird hier lebendig, eben weil das Haus heute auch anders genutzt wird. Besucher betreten dieselben Stufen, die auch die damaligen Zöglinge gegangen sind. Wo nun Studierende und Nutzer zwischen Bibliotheksregalen arbeiten, saßen früher die Waisenhauskinder auf der Schulbank. Im Betsaal, in dem früher Feste der Jüdischen Gemeinde in Pankow gefeiert wurden, finden jetzt öffentliche ‚Pankower Waisenhausgespräche‘ und andere Veranstaltungen statt. Die Authentizität des Ortes beeinflusst die Art, wie nachfolgende Generationen Geschichte erleben, und diese ist im Waisenhaus erfahrbar.
Eröffnung der Ausstellung 2025
Am Mittwoch, 5. März 2025, wurde die neue Dauerausstellung von Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht, dem Vorstand der Cajewitz-Stiftung, sowie dem Kurator Pascal Johanssen und einem Grußwort vom Repräsentanten des Abgeordnetenhauses von Berlin, Dirk Stettner, eröffnet. Sie widmet sich dem Schicksal der Zöglinge des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses in Pankow. Ihre Lebens- und Leidenswege müssen auch für kommende Generationen erlebbar bleiben. Sieben Ausstellungskapitel halten deren ‚Verlorene Kindheiten‘ fest.
In der inhaltlichen Konzeption der Ausstellung steht das Haus, das für seine Besucherinnen und Besucher ein „greifbarer“ Ort ist, im Mittelpunkt. Es werden die Geschichte des Hauses und die Schicksale der Zöglinge in sieben Kapiteln erzählt:
Kapitel 1 – Flucht in das Haus
Vom Neubau 1912, über die Rolle von Josef Garbáty bis über die verschiedenen Wege der Zöglinge in das Haus wird die Anfangsphase dokumentiert. Vor allem die Motive der Flucht ins Haus (z.B. Schutz vor judenfeindlichen Angriffen oder Pogromen im Osten) spielen hier eine Rolle.
Kapitel 2 – Angriffe gegen das Haus
Das Waisenhaus war zahlreichen Angriffen ausgesetzt, von denen exemplarisch z.B. der dokumentierte Sturm der Hitlerjugend auf das Haus dargestellt wird sowie die zivilcouragierte Haltung des Lehrers Nadel mit einem Kind auf dem Arm.
Kapitel 3 – Flucht aus dem Haus
Unter dem Druck der wachsenden rechtlichen und tatsächlichen Drangsalierung jüdischer Bürger entschlossen sich die Eltern einiger Zöglinge zur Flucht der Kinder, die z.T. nach England, Holland, aber auch China und Palästina führten. Dies ist die Zeit, bevor das Haus selbst keinen Schutz mehr bieten konnte.
Kapitel 4 – Kein Schutz mehr durch das Haus
Ab 1941 konnten keine Zöglinge mehr entkommen, so dass es für 44 Zöglinge, Lehrer und Betreuerinnen und Betreuer keine Hoffnung mehr gab – sie wurden deportiert und ermordet, während ab 1942 das Waisenhaus beschlagnahmt und selbst Teil des Reichssicherheitshauptamtes wurde.
Kapitel 5 – Rekonstruktion
Das Kapitel springt zeitlich vom Kriegsende sogleich ins Jahr 2000. Hier gab bei der Sanierung und Rekonstruktion des Hauses durch die Dr. Walter und Margarete Cajewitz-Stiftung das Gebäude immer mehr Erinnerungszeichen an das frühere Leben seiner jüdischen Bewohner frei. Das Engagement dieser Stiftung tritt hier zutage, u.a. auch mit der Gründung des Vereins der Freunde und Förderer des ehemaligen jüdischen Waisenhauses im September 2000.
Kapitel 6 – Rückkehr in das Haus, das Heimat war
In diesem Abschnitt leben die Treffen der Überlebenden, das Wiedersehen mit ihnen und die emotionalen Reden auf. Sowohl die Pankower Öffentlichkeit als auch Engagierte aus dem öffentlichen Leben (Jutta Limbach, Christa Wolf, Wolfgang Thierse u.a.) nahmen an den Empfängen teil. Hier werden die Vermächtnisse der Überlebenden zentral, die auch als Botschaft für die Gesamtausstellung fungiert: Während eine Versöhnung mit dem Faschismus nicht möglich ist, kam es auf einer persönlichen Ebene durchaus zu einer Versöhnung zwischen den früheren Zöglingen und den Freunden und Förderern des ehemaligen Waisenhauses. Die Notwendigkeit – aber auch überhaupt die Möglichkeit – von Versöhnung wird hier thematisiert.
Kapitel 7 – Vermächtnispflege als Erinnerungskultur
Dieses Kapitel zur gegenwärtigen und zukünftigen Gedenkkultur findet etwas abgetrennt im jetzigen Zeitschriftensaal der Bibliothek seinen Raum, der in der Zeit des Waisenhauses freizeitlicher Treff der Zöglinge war. Dieser Bereich, der sich auch farblich und formal vom Rest der Ausstellung abhebt, kann drei Aufgaben erfüllen:
- Zum einen die gelebte Erinnerungskultur aufzeigen, wie sie von der Cajewitz-Stiftung verwirklicht wird und zu einem festen Bestandteil des Ortes geworden ist, u.a. durch die ‚Pankower Waisenhausgespräche‘ der Cajewitz-Stiftung seit 2007 im ehemaligen Betsaal (heute Leslie Baruch Brent-Hall).
- Zum anderen kann sie zur „zukünftigen Erinnerungskultur“ überleiten und Raum für Diskussionen – insbesondere für Besuchergruppen – mit modularen und spielerischen Elementen bieten, z.B. Tafeln mit bestimmten Fragestellungen, können wechselnd (z.B. von Guides) hervorgeholt und auf Wandvorsprünge gestellt werden, vertiefende Geschichten aus dem Leben der Zöglinge können erzählt werden, Audio oder Video-Animationsfilme bieten weitere Erkenntnisse.
- Ferner verfügt der Raum als solcher über eine besondere Aufenthaltsqualität; es ist ein Rückzugsraum für diejenigen, die sich konzentriert mit den Themen der Ausstellung beschäftigen möchten. Das letzte Kapitel öffnet demnach das historische Thema der Ausstellung in Richtung Zukunft und praktische, gelebte Formen der Erinnerungskultur. Mit der Kombination aus Bibliothek, Schule und Ausstellung ist das Waisenhaus in Deutschland ein besonderer Ort, der ein solches Gedenken auf innovative Weise ins tägliche Leben holt.
Eine spezielle Rolle spielt hier das sog. „Treppen-Triptychon“, eine dreigliedrige Darstellung der Zöglinge auf der Treppe des Waisenhauses. Im Jahr 2011 trafen sich noch 19 Überlebende, 2010 waren es 8. Beide Situationen sind in Fotografien festgehalten. Diese beiden Bilder werden durch ein Foto der Treppe aus 2023 ergänzt, bei dem niemand mehr auf der Treppe zu sehen ist: So wird verdeutlicht, wie sehr sich die Erinnerung an einzelne Personen koppelt, die nunmehr nicht mehr durch persönliche Begegnungen zugänglich sind.
Hierbei handelt es sich um eine einzigartige Kombination aus historischen Erzählungen und interaktiven und mit den Sinnen erfahrbaren Erlebnissen. Die neue Ausstellung zeigt auf lebendige Weise, wie Erinnerungskultur durch Dialog und Begegnung in den Alltag integriert werden kann. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das „Treppen-Triptychon“: Sie zeigt die über die Jahre schwindende Anzahl ehemaliger Zöglinge – und schließlich die leere Treppe, welche den Tod aller Zöglinge des Pankower Waisenhauses belegt. Das zeigt die Dringlichkeit, ihre unglaublichen Geschichten und ihre Vermächtnisse weiterzutragen.
Neue Ausstellung und Kommunikationsort
Die ehemaligen Zöglinge (die nun alle verstorben sind) haben uns ein Vermächtnis hinterlassen, das überzeugender und zukunftsfördernder nicht vorstellbar ist. Es orientiert sich – trotz der grauenhaften SHOAH – an Versöhnung und Frieden in der Welt. Die Kombination der neuen Ausstellung zur Vergangenheit des Waisenhauses und der auf Dauer gestellten Verbundenheit mit den ehemaligen Zöglingen wird heute weitergetragen durch deren DRITTE und VIERTE GENERATION. Nach intensiver 15-jähriger Freundschaft mit den Zöglingen muss deren Vermächtnis für eine zukünftige Gedenkkultur gesichert werden.
Das ist nur möglich, wenn das Waisenhaus als ausgewiesener Kulturstandort vor anderweitigen regionalen Verfügungsinteressen des Bezirksamtes vom Land Berlin auf Dauer geschützt wird.
Historische Ausstellungen laufen manchmal Gefahr, wie „an die Wand geklebte Bücher“ konzipiert zu werden. Die Aufgabe der Ausstellungsgestaltung besteht hingegen darin, Besucherinnen und Besuchern eine räumliche Erfahrung mit vielerlei Sinneseindrücken zu bieten, wobei auch Vereinfachung ein Stilmittel sein kann. Hier konnte eine Linie gefunden werden.
Es ist das Vermächtnis, das die Zöglinge, die mittlerweile alle gestorben sind, selbst hinterließen. Sie zeigten, dass nach dem denkbar größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegenüber Millionen europäischer Juden ein friedliches und empathisches Wiederannähern möglich ist. Die versöhnende Kraft der Wiederannäherung wurde in zahlreichen Besuchsjahren, in denen die Zöglinge nach Pankow kamen, erlebt und bewiesen. Indem die Ausstellung auch über diesen Teil der Geschichte berichtet, wird die Vergangenheit an die Gegenwart angekoppelt. Sie kann zeigen, dass eine freiheitliche Gesellschaft nicht einfach von selbst vor dem Abgleiten in Abgründe geschützt ist, sondern eine fortwährende Wachsamkeit benötigt, die sich aus der historischen Erfahrung speist.
Nicht die Historisierung soll Botschaft der Ausstellung sein, sondern eine praktische gelebte Erinnerungs- und Gedächtniskultur kann viel bewirken. Die Ausstellung im ehemaligen Waisenhaus, die von Dr. Walter und Margarete Cajewitz-Stiftung initiiert und gemeinsam mit dem Meisterrat e.V. verwirklicht wurde, kann – so ist zu hoffen – einen Anknüpfungspunkt bieten, von dem aus in Zukunft immer neue und andere Formen des Erinnerns und Gedenkens ausgehen.
Einen Artikel zur Ausstellung, verfasst von der Jüdischen Allgemeinen, finden Sie in der hier.
Eine Ausstellung in Kooperation mit