Differenziertes Kulturbewusstsein

Schnuppe von Gwinner (früher in Hamburg, heute in Leipzig) ist eine der aufmerksamsten Kennerinnen der deutschen Kunsthandwerkslandschaft. Ihr Online-Blog – blog.craft2eu.net – ist mittlerweile ein nicht weg zu denkendes Organ der Szene. Hier laufen viele aktuelle relevante News zusammen. Schnuppe von Gwinner im Gespräch mit Pascal Johanssen

Hat sich Dein Kunsthandwerks-Blog über die Jahre so ergeben oder wusstest Du: das fehlt in Deutschland, das muss man machen?

Mein erster Blog-Post ging Anfang März 2005 online. Mit meinem Bericht über die aktuelle SCHMUCK-Woche und die Internationale Handwerksmesse in München sowie von einem herrlichen Abendvergnügen mit der Clownin Gardi Hutter. Und so ging es dann viele Jahre, in denen ich für meine Galerie craft2eu und viele andere Projekte kreuz und quer durch Deutschland und Europa reiste. Ich schrieb über meine Begegnungen mit Handwerkskünstlern und Designern, in ihren Studios und auf Messen, aber auch über interessante Ausstellungen, Projekte, Symposien, Museen und besonders anregende Orte und kulinarische Highlights. Das machte nicht nur mir Spass, sondern fand eine rapide wachsende Leserschaft, auch in den Redaktionen großer Magazinverlage, die sich kräftig inspirieren ließen – mit erfreulichen Konsequenzen für mich und mein Galerie craft2eu.

Der Markt für gedruckte Magazine war damals auch schon überschaubar.

 

Ja, im Dezember 2013 erschien die Fachzeitschrift „kunsthandwerk & design“ nach 57 Jahrgängen zum letzten Mal. Anfang der 80iger Jahre hatte mich Günter Nicola als freie Autorin an Bord geholt. Auch nach der Übernahme durch seine Nachfolgerin Uta Klotz schrieb ich dort regelmässig. „kunsthandwerk & design“ war ein wichtiges Organ und fehlte sofort spürbar in der deutschen Szene. Wir überlegten Alternativen und gleichzeitig erweiterte ich Zug um Zug den Themen-Radius meiner Berichterstattung im Blog. Schliesslich, im November 2014, startete der Blog für europäische Handwerks- und Designkultur in neuem Magazin-Layout auf wordpress – ab November 2015 sogar mit einem täglichen Post, der pünktlich um 10 Uhr online geht.

Wie groß ist Dein Team?

Bis heute kümmere ich mich allein um die Redaktion der Beiträge, deren Inhalte ich aus den Newslettern und Pressemitteilungen der Museen, Galerien und Veranstalter sowie aus Hinweisen der Leserschaft destilliere. Das Feedback meiner Blogleser bestätigt mich darin, meine Passion für die Handwerkskunst und angrenzende Phänomene weiterhin altruistisch zu teilen und damit ein Loch im Newsfeed der deutschsprachigen Kreativ-Szene zu stopfen. Und darauf zu hoffen, dass mich meine Expertise über diesen Umweg auch für honorierte Engagements empfiehlt – was bisher ganz gut gelingt.

Das muss man tatsächlich auch einmal so aussprechen: Der Blog versorgt uns mit guten, aber immer noch kostenlosen Informationen. Qualitativer Journalismus ist heute kaum noch so zu haben. Aber zum generellen Stand von Craft und Design in Deutschland: Wo stehen wir heute?

Zuerst muss man zur Kenntnis nehmen, dass die meisten anderen europäischen Länder ihren Craft-Szenen eine bemerkenswerte Wertschätzung entgegen bringen, die sie veranlasst, relevante finanzielle wie strukturelle Förderungen bereitzustellen. Das ist nicht alles historisch gewachsen – vieles ist auch mühsam erkämpft. Deutschland sieht sich vorrangig als industrielle und technologische Vorreiternation. Daneben natürlich auch als Kulturnation, aber das meint dann eher Goethe und Schiller, Bach und Beethoven, manchmal auch etwas Bauhaus. Ein differenzierteres Kulturbewußtsein wird zumeist einem hierarchisch gefärbten Dünkel geopfert und fällt hierzulande zwischen die Stühle – höchstens das „Design“ kippelt noch auf der Kante, von der Allgemeinheit unverstanden und ungeliebt, aber irgendwie doch hipp. Natürlich gibt es auch in Deutschland einen Bundesverband Kunsthandwerk (BK), der aber nur einen sehr kleinen Kreis der Akteure repräsentiert. Darüber hinaus in manchen Bundesländern aktive regionale Arbeitskreise und Verbände, die sich aus dem Kreis der Kunsthandwerker heraus rekrutieren und ganz große Arbeit im Kleinen leisten. Kompetitiv in einem internationalen Kontext ist die Situation im föderalistisch organisierten Deutschland leider kaum.

Wo sieht es besser aus? England?

Aus meiner Perspektive sind die angelsächsischen Länder die europäischen Musterschüler in der Förderung ihrer Kreativen. England, Irland, Schottland unterstützen mit ihren gut etablierten Craft Councils seit 1972 das Kunsthandwerk mit vorbildlicher Kommunikation, Netzwerkarbeit und einem differenzierten Angebot gut etablierter Messe- bzw. Ausstellungsformate. Allein die Homepage des British Crafts Council spricht Bände. Auch die britischen Kreativen müssen um ihre Existenz kämpfen, doch sie bekommen die Steigbügel gehalten, mit perfekt auf ihre Bedürfnisse abgestimmten gestalterischen wie administrativen Qualifikationsangeboten – mit sehr viel Hilfe zur Selbsthilfe! Zudem veröffentlichte der Crafts Council im Mai 2020 z.B. die umfassende – und sehr aufschlussreiche – Untersuchung „The Market for Craft“ und unterstrich damit wie ernst dieser zu nehmen ist.

Und Frankreich?

In Frankreich haben sich die „Ateliers d’Art de France“ als Berufsverband der französischen Kunsthandwerker und Miteigentümer der Messe „Maison et Objet“ die Aktivitäten des britischen Crafts Council zum Vorbild genommen. Sie investieren ihre segensreichen Einkünfte aus der weltgrößten Konsumgütermesse in die Gründung schicker Galerien und Showrooms für Kunsthandwerk, in respektable Messeauftritte auf der M&O selbst wie in die ambitionierte Biennale Salon „RÉVÉLATIONS“ im Pariser Grand Palais, in wertvolle Auszeichnungen und Veranstaltungen zur Bewahrung des kulturellen Erbes etc. – der Fokus liegt in diesem Kontext jedoch nicht wirklich auf der Hilfe zur Selbsthilfe. Nun, in Zeiten der Pandemie, dem Ausfall der M&O im Herbst 2020, im Januar 2021, schmelzen die finanziellen Ressourcen dahin... und der Ruf nach dem Staat wird lauter. Auch in den skandinavischen oder Benelux-Ländern trifft kunsthandwerkliches Schaffen auf effiziente organisatorische Strukturen, sogar unter der Schirmherrschaft der jeweiligen Fürstenhäuser. —Angewandte Künstler können unter den Fittichen einschlägiger Verbände netzwerken, ausstellen und mit Unterstützung unterschiedlicher Förderungen auch Messen und Möglichkeiten jenseits der eigenen Landesgrenzen ausprobieren. Auffallend ist hier auch die Bandbreite der Akzeptanz dessen, was auf dem Weg zwischen Tradition und Innovation unter Kunsthandwerk, Craft, Kunst, Handwerk, Design mitspielen darf. Dort liegen die Prioritäten ganz klar in der Suche nach Gemeinsamkeiten – nicht in der trennenden Kategorisierung durch ein konstruiertes Wertegefälle.

Osteuropa?

Leider kenne ich mich in den osteuopäischen Ländern nicht so gut aus, da ich noch wenig Gelegenheit hatte dort hin zu reisen und auch die Sprachen leider nicht spreche. Mein Eindruck ist aber, dass die EU-Förderungen kooperativer Projekte dort helfen voran zu kommen. Ich selber betreute für einige Jahre das internationale Marketing in einem EU-Handwerksprojekt in der Partnerschaft von Rhodos, Erice, Belfast und Hamburg (!!!). Wir haben über vier Jahre, trotz dieser komplizierten Konstellation, wirklich Bemerkenswertes in neu gegründeten Handwerks-Innovationszentren und mit passenden Marketingkonzepten zustande gebracht.

Bleibt Südeuropa.

Südeuropa, mit Portugal, Italien, Spanien und Griechenland, trennt klar zwischen zeitgenössischem Design und traditionell geprägtem Kunsthandwerk. Doch es tut sich eine Menge, gerade auch mit Anschubfinanzierungen aus EU Mitteln. Es entstehen immer mehr kreative Selbstorganisationen die selbstbewußt und innovativ die Offerten digitaler Kommunikation nutzen und zu erfolgreicher Netzwerkarbeit und im Marketing nutzen. In jüngster Zeit hat das engagierte Eintreten großer Luxuskonzerne für die Handwerkskunst als unverzichtbares Kultur- und Wirtschaftsgut eine große visionäre Kraft für die Kreativbranche entwickelt. Ausschreibungen wie der „LOEWE Craft Prize“ oder das Netzwerk der Michelangelo Foundation mit der Ausstellung „Homo Faber“ 2018 in Venedig, den Workshopprogrammen für junge Handwerkskünstler und dem Projekt „Doppia Firma“ sowie ihrem im Herbst 2020 gelaunchten „Homo Faber Guide“ beflügeln die Fantasie der gesamten, internationalen Branche.

Zurück nach Deutschland. Gibt es etwas, was die hiesige Szene des Kunsthandwerks auszeichnet? 

Das zeitgenössische Kunsthandwerk in Deutschland ist im internationalen Vergleich von spektakulärer Qualität. Herausragende Handwerkskünstler werden in anderen Ländern, wie z.B. Japan oder Frankreich, als lebende Denkmale ausgezeichnet und finanziell versorgt, mit dem einzigen Auftrag, den Schatz ihres Wissens an die Jungen weiter zu vermitteln. In Deutschland ist man fern von solchen Konzepten. Das Kunsthandwerk, das diesen Namen verdient, ist nicht beliebig abrufbar und nach ökonomischen Gesichtspunkten optimierbar – doch nur so würde es hierzulande auch über die Nische hinaus Interesse wecken. Es ist jedoch bemerkenswert, dass auf internationalem Level agierende freie Künstler und Designer die Handwerkskunst aktuell als  Inspirationsquelle für sich und ihre Arbeit entdecken, die originären Kunsthandwerker jedoch wenig von diesem Trend profitieren. Sie umweht nur sehr sachte das verführerische Karma des Zeitgeistes, der aus Traditionen wachsenden Erneuerung, obwohl sie alle diese brandaktuellen Themen wie den respektvollen Umgang mit Ressourcen, den elementaren Gedanken von Nachhaltigkeit, das Halten der Balance zwischen Nützlichkeit und Schönheit und so fort in ihrer täglichen Arbeit ehrlich – nicht nur für den temporären Effekt – leben.

Verortest Du die Kunsthandwerker im Kulturbereich oder sprechen wir über Unternehmer?

Diese Frage würde ich – gerade im Kontext mit diesen unseligen Debatten zur Stellung der Kultur im Umgang mit der Pandemie – gerne auch an alle Kulturakteure richten, die nicht Kunsthandwerker sind! Es wird immer so getan als wäre alle Kultur fern ökonomischer Interessen. Nenne mir jemand einen Maler, der sich nicht freut sein Gemälde für angemessenes Geld zu verkaufen, Musiker, Schauspieler, Tänzer die sich nicht über eine Gage freuen – ALLE Kulturschaffenden müssen auch unternehmerische Akteure sein, genauso wie es die Kunsthandwerker sein müssen um ihre Existenz zu sichern.

Man hat den Eindruck, dass Handwerkskünstler hierzulande durch das Raster fallen: das Wirtschaftsministerium nimmt sie nicht ernst, das Kulturministerium sieht in ihnen höchstens ein Randphänomen der Kultur. 

Handwerkskünstler bewahren wertvolle Elemente unserer Lebenskultur sowie über Jahrtausende entwickelte technologische wie gestalterische Expertise. Sie nutzen dieses als Basis für zeitgemässe Innovationen. Kultur- wie Wirtschaftsabteilungen müssten sich da gleichermaßen angesprochen fühlen; in der Realität ist das meiner Erfahrung nach tatsächlich so, auch wenn es oft der diplomatischen und kreativen Übersetzungskunst der Antragsteller bedarf, um beim jeweils einen oder anderen erfolgreich erhört zu werden. Ich konnte mich z.B. nicht darüber aufregen, dass die Galerien während des November 2020-Lockdowns im Gegensatz zu den Museen offen bleiben konnten, auch wenn mir beide lieber gewesen wären. Galerien als Einzelhandel für Kunst zu betrachten fand ich einen sehr ehrlichen Standpunkt.

Du bist vor einiger Zeit von Hamburg nach Leipzig gezogen. Leipzig scheint aufzublühen und setzt in den Bereichen Kunst, Handwerk und Gestaltung spannende Impulse. Trifft hier die Nachwende-Freiheit auf ein politisches Verständnis der Stadtväter- und mütter?

Seit 2014 lebe und arbeite ich in Leipzig. Der Spirit der Stadt wird von einem engagierten, weltoffenen Bürgersinn getragen. Hier flackert die satte Überheblichkeit der westlichen Metropolen nur hin und wieder als Störfeuer gieriger Investoren auf. Den Begriff „Hypezig“ mögen die echten Leipziger aus gutem Grund nicht, denn er bedroht den kreativen und konstruktiven Geist der Stadt durch ökonomische Begehrlichkeiten, die von aussen kommen und ihm gefährlich werden könnten. Nach meiner Erfahrung interessieren sich hier die Menschen für die Ideen und Projekte ihres Gegenübers und unterstützen sich gegenseitig mit großer Offenheit.

Klingt nach einem Paradies. 

Die Vielfalt des kulturellen Angebotes ist jedenfalls profilbildend für das urbane Leben in Leipzig, auf Weltniveau wie in der lokalen Nische. Das ist ungeheuer spannend und schafft eine Atmosphäre, die Raum und Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Nachwende-Freiheit ist das allerdings nicht mehr, das muss sich doch noch anders angefühlt haben.

Mit dem Grassi-Museum verfügt die Stadt ja auch über einen Ort für Deine Interessen.

Ich schloss mich 2014 direkt dem Freundeskreis des GRASSI Museums für Angewandte Kunst an und habe in diesem wunderbaren Museum in jeder Hinsicht eine Art Heimat gefunden, in der mein Engagement und meine Expertise willkommen ist. So kam es zu einigen gemeinsamen Projekten. Nicht zuletzt als Autorin des Museums-Blog kann ich ein wenig Hintergrund und Faszination aus dem Museum an die Öffentlichkeit tragen.

Gibt es ein aktuelles Lieblingsprojekt, das Du entwickelst?

Im vergangenen Jahr 2020 habe ich den „Stadtplan Handwerkskunst Leipzig“ konzipiert und mit dem Freundeskreis des GRASSI Museums für Angewandte Kunst pünktlich zur GRASSIMESSE 2020 in Print- und Online-Version herausgegeben. Kreative Studios und Werkstätten, kleine Produktlabel, handwerkliches Savoirefaire und gestaltende Spezialisten verleihen Leipzig’s Ruf als Kulturstadt eine weitere, hochaktuelle Nuance.

Und 2021? Ist das schon planbar?

Zu Beginn dieses Jahres werde ich gemeinsam mit der Filmemacherin Alina Cyranek, unterstützt von „so geht sächsisch“, Kurzfilm-Dokumentationen über einige Handwerkskünstler produzieren.  Doch mein allerliebstes Lieblingsprojekt verharrt aktuell als Pandemie-Opfer. Im Jahr 2019 konnten wir mit dem Projekt „GRASSI for friends“ fünf ausgewählte Künstlerinnen aus Sachsen auf dem internationalen Salon „RÉVÉLATIONS“ im Pariser Grand Palais vorstellen – und waren dort die einzigen selbständig präsentierenden Deutschen. Als ein direktes Ergebnis dieses Engagements wurde ich eingeladen für die Biennale DE MAINS DE MAITRES Luxembourg 2020 den deutschen Beitrag mit der Auswahl der Objekte von elf Handwerkskünstlern zu kuratieren – die Biennale fiel aus und ist nun für den November 2021 geplant.  Auch sonst knüpften wir vielversprechende Kontakte! daher haben wir unser Konzept für zukünftige Aktivitäten dieser Art weiter verfeinert und mit der GRASSIMESSE verbunden, um nicht nur der zeitgenössischen Handwerkskunst, sondern auch der Messe und dem Museum internationale Aufmerksamkeit auf dem Salon „RÉVÉLATIONS“ 2021 zu verschaffen. Doch ein Fundraising für dieses ambitionierte Vorhaben erscheint zu diesen Unzeiten quasi unmöglich. Wir können nur die Daumen drücken, dass der Salon im Juni 2021 im „Grand Palais éphémère“ Paris – leider ohne uns – überhaupt stattfinden kann.