Ich habe herausgefunden, dass es Schuhmacher eigentlich kaum noch gibt. Das wurde mir nach der Fertigstellung meiner Steuererklärung am Dienstag klar.
Sie schnauben? Die Rede ist von richtigen Schuhmachern, also nicht den kleinen Reparatur-Kiosken in den Bahnhöfen, sondern den Schumachern, die das Handwerk beherrschen und durchdrungen haben und mit der Passion eines japanischen Maskenschnitzers nach Vollkommenheit streben. So ein Werkstattgeschäft findet man zum Beispiel noch in Baden-Baden, wenn Sie das Schild „Vickermann & Stoya“ irgendwo finden, sind Sie richtig.
Es wird ein bißchen einsam
Bevor ich zu Vickermann & Stoya komme, muss ich für etwas Übersicht sorgen, zum Glück liebe ich Übersichten. Die aktuelle Problematik das Handwerk des Schuhmachers spiegelt sich darin, dass den traditionellen Handwerkern der Nachwuchs ausbleibt. Schaut man sich ab 2010 die Zahlen der abgeschlossenen Ausbildungsverträge, stellen wir fest, dass die Zahl der Lehrlinge erschreckend rückläufig ist. Waren 2014 noch 50 besetze Lehrstellen sind es 2020 gerade mal 9, sagt die Statistik des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZHD).
Auf welchen Mißstand nun wieder sind diese dramatischen Zahlen zurückzuführen? Eigentlich sollte man denken, dass mit der Abschaffung der Meisterpflicht 2004 (im Zuge der Hartz-Reform) die Betriebe nun leichter ausbilden könnten. Kurzfristig gesehen war es damals sicher eine gute Entscheidung, um den Druck der steigenden Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Langfristig war das jedoch kein umsichtiger Plan. Es gibt Sonderregelungen, ohne Meister auszubilden, doch die Sonderreglungen sind mit weiteren Kosten verbunden, einen Meisterbrief kann bis zu € 12.000 kosten, für viele eine erhebliche Summe. Doch es ist natürlich nicht nur der Meistertitel, dieser ist ja Auszeichnung und Hürde zugleich. Sicher ist, dass das Handwerk nur durch die Weitergabe von fundiertem Fachwissen weiter bestehen kann, es muss aber auch mit der Zeit gehen. Ein Meistertitel ist kein Garant für fachliche Innovativität. Fachliche Kompetenz könnte auch durch z.B. Zertifikate der Weiterbildung bescheinigt werden, diese Perspektive allein ermöglicht den Fachkreis des Schuhmacherhandwerkes zu vergrößern und durch zukunftsorientiertes Handeln wieder mehr Auszubildene ins Boot zu holen. Letztlich ist die Ausbildungsmisere im Schuhmacherhandwerk natürlich das Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Rechnung, die eine junge Auszubildende oder ein ebenso junger Auszubildender in spe an einem schönen Nachmittag nach Erledigung der Instagram-Pflichten vornimmt, um herauszufinden, in welchem Segment künftige Erfolge winken. In der Kosten-Nutzen-Rechnung spricht erstmal nicht viel für das Schuhmacherhandwerk.
Die Fertigung eines neuen Maßschuhes erfordert Erfahrung, orthopädisches Grundwissen und Geschicklichkeit, denn jeder Maßschuh ist einen handwerkliche Schöpfung, die individuell mit dem Geschmack des Trägers und dem Bedarf des Fußes übereinstimmen muss, um höchsten Tragekomfort, denn um den geht es ja, garantieren zu können. Über 200 Arbeitsschritte sind notwendig, um einen formvollendeten, fertig polierten Schuh dem Kunden übergeben zu können. Die Regeln der Fertigungsschritte überdauern bereits seit mehreren Jahrhunderten und sind im dem Handwerk des Schuhmachers unabdingbar. Dem Schuhmacher wird durchaus Perfektion abverlangt, denn er muss ich auch immer wieder mit den neusten Trends auseinandersetzen, denn nicht nur das klassische Herrenmodell ist gefragt, sondern auch der Damenschuh hat in der Maßanfertigung seine Nachfrage. Soweit die Theorie und seltene Praxis.
Ob sich ein solcher Aufwand heute noch lohnt? Schuhe sind zum Massenartikel geworden, und selbst wenn Schuhe zum Fetisch werden, also ihnen im Gegensatz zu anderen Gebrauchsgegenständen eine legitime Wertschätzung (sogar Verehrung) entgegengebracht werden: selbst dann geht es eher um das Sammeln von neuen Sneaker-Modellen als darum, einen wirklich besonders guten Schuh besitzen zu wollen.
Wenn der Markt zu wenig Resonanz zurückgibt, dann vielleicht das schlechte Gewissen? Handgefertigte Schuhe sind doch nachhaltig, man müsste meinen, allein das bewöge die Menschen dazu, sich verantwortungsvoller zu kleiden. Doch nein. Die meisten Leute, die oben (auf der Ebene des Kopfes) nachhaltige Gespräche über Nachhaltigkeit führen, stehen unten (auf der Ebene des Fußes) auf Turnschuhen von Nike & Co. Dieser Schuh ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit. Wenn er im glücklichsten Fall auch nicht durch Kinderarbeit geschaffen wurde, ist er in jedem Fall und beim besten Willen immer noch nicht nachhaltig produziert. Auch das Sterben der regionalen Schuhmacherbetriebe hat natürlich damit zu tun, da es einfach kaum mehr Schuhe gibt, bei denen sich eine Reparatur überhaupt lohnen würde.
Wenn Heidegger zur Tür hineinkommt
Auf die Frage, was zu tun ist, um diese Mißstände zu beheben, kann man nur zurückfragen: Für wen? Für die Politik? Die Gesellschaft? Hierzu gibt es spannende Anätze, die ich beim nächsten Mal besprechen wollen würde. Dazu folgt ein gesonderter Vorschlag. Die Schuhmacher selbst könnten aber zur Sicherung ihres Berufsstandes ebenfalls etwas beitragen, und so komme ich zurück auf die erwähnte Maßschuhmacherei Vickermann & Stoya. Kurz gesagt: Wenn es alle verbliebenen Maßschuhmacher so machen würden wie das Schuhmacher-Duo aus Baden-Baden, dann hätte Deutschland einige Vorbilder für den Nachwuchs mehr. Was macht Vickermann & Stoya richtig?
Zunächst einmal hat Vickermann & Stoya, der Zusammenschluss von Matthias Vickermann und Martin Stoya seit 2004, dazu geführt, dass das Maßschuhmacherhandwerk in Deutschland ein Gesicht bekommen hat. Vickermann & Stoya sind präsent, und sie haben auch dem Standort Deutschland, diesem ständig erodierenden und verwalteten Stück Fläche im Strudel der globalisierten Weltwirtschaft, die Treue gehalten. Deutschland spielte im Maßschuhmacherhandwerk immer eine besondere Rolle ‑auch wenn es in keiner deutschen Stadt so etwas wie eine glanzvolle Savile Row gibt — bis heute findet die einzige weltweite Schuhmachermesse in Wiesbaden statt.
Ein anderes Erfolgsmerkmal von Vickermann & Stoya ist Mut. Wenn Matthias Vickermann über sein Handwerk spricht, zückt er gern seinen kleinen Taschenheidegger, den er immer bei sich trägt, den er – in Abwandlungen von Max Goldt gern zitiert: „Die deutsche Menschheit“, heißt es da, „schätzt Schuster, die bei ihren Leisten bleiben, doch sie braucht auch Schuster, die nach den Sternen greifen.“ Das Vorhaben von Vickermann & Stoya mutet dann auch als ein solches Sternenprojekt an, denn warum gründet man schon ein Maßschuhmacher-Atelier in einer Zeit, in der andere sterben? Seitdem rollt sich Vickermann & Stoya über die Lande aus wie ein Energieteppich: Maßschuhe werden gefertigt, Schuhputzworkshops auf Kreuzfahrtschiffen gegeben, Reparaturanfragen in einem gesonderten Onlineprojekt aufgefangen (Shoe Doc), die Werkstatt geht mit TV-Beiträgen auf Sendung, bildet aus, kümmert sich um den Schutz des Schuhmacherhandwerks im Hinblick auf einen Unesco-Schutz, denn es ist ja auch ein immaterielles Kulturerbe, dieses Handwerk. Jedenfalls: Es ist schon wichtig, in arbeitsteiliger Koordination sowohl seine Meisterschaft im Atelier auszuleben, als auch draußen, auf Instagram, auf den Straßen Baden-Badens, im Reichstag in Berlin oder auf den Meeren der Welt zu erzählen, dass es Maßschuhmacher im Allgemeinen, und in Baden-Baden im Besonderen gibt. Diese arbeitsteilige Intelligenz des Duos, das die Idee der dualen Ausbildung von Theorie und Praxis als lebenslanges Lernmodell fortführt, kann als Vorbild für kleinere Handwerksbetriebe der Gegenwart und Zukunft herhalten: Seht, wir sind da. Wir sind nicht groß. Wir können das, was wir machen, wir stottern auch nicht, wenn wir dazu gefragt werden, warum wir das machen, was wir machen. Und wir gehen dorthin, wo die Menschen noch nicht wissen, dass sie einen Maßschuh brauchen. Wie wäre es vielleicht mit einem neuen handgefertigten Derby?
Pascal Johanssen
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